Mit zahlreichen Plakaten wurde in der Menschenkette gegen Nazis und fürs Impfen demonstriert.

„Höchste Zeit, die Obere Hauptstraße zurückzuerobern!“

600 Menschen bilden Menschenkette gegen „Spaziergänger“

Etwa 600 Leute versammelten sich am Montagabend auf Einladung der Grünen und des Forums für Rottweil in dessen guter Stube, der Oberen Hauptstraße, und bildeten, mit Plakaten und Schals als Abstandshalter, eine große Menschenkette. Dazu kam eine ebenfalls angemeldete Aktion von Rössle-Treibern mit ihren Peitschen, die wie am vergangenen Montag für einen kräftigen und fasnetsmäßigen Sound sorgten. Und dann waren da etwa 1300 sogenannte Spaziergänger, denen an diesem Abend der Zugang zur Oberen Hauptstraße verwehrt wurde, denn die Polizei ließ hier nur rein, wer eine FFP2-Maske trug. Der Rest musste draußen bleiben.

Und tat es auch: Man „spazierte“ oberhalb des Schwarzen Tores entlang, über den Münster- bis zum Friedrichsplatz. Wo sich die 1300 versammelten, auf beiden Seiten der Straße und manchmal auch mitten darauf, es wurde gepfiffen, geklatscht, gejubelt. „Hier ist endlich mal wieder was los!“, so der Kommentar einer Teilnehmerin. „Wir stehen für Demokratie, es kann doch nicht sein, dass man uns zum Impfen zwingt!“, so eine andere. „Ich bin zweimal geimpft, Ihr Spacken!“, ruft einer in Richtung der Menschenkette.

In der Oberen Hauptstraße war schon ab halb sechs viel los. Die etwa 600 Demonstrierenden hatten zahlreiche Plakate dabei, auf denen von „Maske auf, Nazis raus“ über „Ich bin ein Anhänger der Impfpfl/eins/icht“ auf einem Fahrradanhänger oder „impfen statt schimpfen“ bis zu „Neben Nazis ‚Freiheit‘ rufen?“ und „Euer Egoismus tötet Menschen“ vieles zu lesen war. Und wieder hatten die Veranstalter, mit dabei auch der Stadtjugendring, für jeden Corona-Toten eine Kerze vor dem Alten Rathaus aufgestellt.

Die Menschenkette: So viele Teilnehmer, dass es für eine äußere und eine innere Reihe, teils sogar drei davon reichte. Manch einer erinnerte sich dabei an die erste Menschenkette Deutschlands 1983, als man gegen die Stationierung der Pershing-Raketen auf die Straße zwischen Ulm und Stuttgart ging. Da waren ein paar mehr Leute unterwegs – aber sei´ s drum. Unter den Teilnehmern: Rottweils Oberbürgermeister Ralf Broß, der noch die Woche zuvor aus dem verdunkelten Rathaus-Erker zuschaute. Heute ging er auf die Straße, und fand die Aktion, initiiert von Stadträtin Elke Reichenbach (Forum für Rottweil) und Peter Bruker (Grüne), richtig gut. „Ich finde es toll, dass es diese Versammlung gibt, die angemeldet ist und die zeigt, dass Corona kein Spaziergang ist.“

Dass die Klepfer, die eigentlich im Rahmen der Menschenkette laut sein wollten, das so nicht durften, weil dort eine Peitsche als unzulässige Waffe eingestuft wurde, fand der Oberbürgermeister nicht so toll. „Aus meiner Sicht ist in Rottweil eine Peitsche keine Waffe.“ Aber es gab ja eine Lösung, die Klepfer meldeten eine eigene Veranstaltung an, und die fiel hier unter das kulturelle Erbe der alten Reichsstadt und wurde demnach auch genehmigt. Ganz im Sinne des Stadtoberhaupts.

Also wurde am Schwarzen Tor geklepft, der Rest der Oberen Hauptstraße gehörte der Menschenkette, zu der sich auch die Fraktionen des Stadtrats – außer der AfD – und der Kreis- und Stadtjugendring bekannten. „Mit großer Sorge haben wir in den vergangenen Wochen die montäglichen ‚Corona-Spaziergänge‘ beobachtet.“ Das habe nichts mit sachlicher Kritik zu tun „und ist für Menschen, die an Covid 19 erkrankt oder gestorben sind, Angehörige verloren haben oder in der Pflege seit Monaten am Limit und darüber hinaus gegen die Pandemie ankämpfen, „ein Schlag ins Gesicht“, so das Statement der Jugendvertreter.

Die grüne Gemeinderatsfraktion hatte kurzerhand ihre eigentlich für den Abend angesetzte Fraktionssitzung auf die Straße verlegt, und erklärte, die „Spaziergänger“ stellten keine Auswege aus der Pandemie zur Diskussion. „Erkennbar ist nur ein allgemeiner Corona-Frust, der das Vertrauen in faktenbasiertes Forschen der Wissenschaft und ins abwägende Handeln des demokratischen Staats schleichend untergräbt.“ Auch die SPD, das Forum für Rottweil und die CDU schlossen sich der Menschenkette in Worten oder auch tatsächlich an.

„Eigene Recherchen haben ergeben, dass die in Rottweil durchgeführten Montagsspaziergänge von Gruppierungen außerhalb der Stadt organisiert und gelenkt werden“, so der CDU-Fraktionsvorsitzende Günter Posselt. Und die SPD teilte mir: „Wir unterstützen die Menschenkette, weil wir ein Zeichen für Solidarität, Besonnenheit, Verbundenheit und Verantwortung setzen wollen.“ Elke Reichenbach und Peter Bruker verlasen die Solidaritätskundgebungen, und Bruker betonte: „Wir waren lange genug die schweigende Mehrheit!“ Höchste Zeit sei es, die Obere Hauptstraße zurückzuerobern. „Die Symbolik ist einfach zu groß.“ Und er ging auf die Diskussion in vielen Chatgruppen ein: Hier werde teils ein offener Systemwechsel gefordert, die Demokratie offen in Frage gestellt. „Das ist für uns unerträglich“, sagte Bruker.

Angesichts der großen Teilnehmerzahl forderte er die Menge auf, einmal die Runde zu drehen: Der innere Kreis geht rechts herum, der äußere die andere Richtung. Das klappte, doch die Polizei fand es nicht gut, also wurde wieder gestoppt. Schließlich, angesichts der Masse, die sich am Friedrichsplatz versammelt hatte, gings nach unten, die Plakate wurden hochgehalten. Dieselben Absperrgitter, die sonst an der Fasnet die Zuschauer von den Narren trennen, trennten jetzt Demokraten von Demokraten. Zumindest, wenn man ihnen zuhörte: Auf der Spaziergänger-Seite war man der Ansicht, dass Demokratie bedeutet, jedem die freie Entscheidung zu überlassen, ob er sich impfen lässt. Auf der Seite der Menschenkette herrschte die Überzeugung, dass es ein Ende der Pandemie nur gibt, wenn sich so viele wie möglich impfen lassen und damit Demokratie auch Solidarität bedeutet.

Entlang der Absperrgitter wurde teils heftig diskutiert, einer hielt ein Plakat hoch: „Ich bin gesprächsbereit“, sanddarauf. Er trug die vorgeschriebene Maske, sein Gegenüber nicht. Überhaupt trug sie unter den Spaziergängern so gut wie keiner, obwohl das Landratsamt das eigentlich angeordnet hatte. Die Polizei hielt sich zurück, das Deeskalationsteam sich bereit und wirkte schon durch bloße Anwesenheit. Ein unmaskierter, bekannter Rottweiler rannte „Määh“ rufend durch die Demonstration, Ordner und Beamte führten ihn hinaus. Die Spaziergänger auf dem Friedrichsplatz jubelten, sangen schließlich „Oh, wie ist das schön“ und kreuzten immer wieder den Friedrichsplatz zwischen hupenden Autos.

Es wirkte ein wenig wie eine Machtdemonstration, offenbar wollte man austesten, wie weit man gehen kann. Immerhin: Es blieb bei verbalen Attacken. Als allerdings einige „Wir sind das Volk“ skandierten, war das offenbar für viele hier ein Grund, sich abzuwenden – der „Spaziergang“ löste sich schnell auf. Den Spruch der einstigen DDR-Montagsdemos hat die Pegida für sich vereinnahmt – damit war dann wohl auch  für viele Spaziergänger der Bogen überspannt. Und dann hob einer der Übriggebliebenen noch gegenüber der Polizei die Hand zum Hitlergruß. Er wurde angezeigt.

Nächsten Montag geht es weiter in Rottweil. Es wird wieder eine Menschenkette geben. Wieder wird geklepft. Und wieder werden Spaziergänger dagegen laufen. Man darf hoffen, dass es auch diesesmal friedlich bleibt.